Markus Dieth: 1. August-Rede in Widen
1. August 2025
Lernen wir heute vom grössten Esel – darüber, warum wir es nicht allen recht machen müssen. Warum wir uns nicht einfach tragen lassen dürfen, sondern selbst Verantwortung übernehmen sollten. Und warum es nicht reicht, wenn wir nur kritisieren – sondern wir selbst unseren Beitrag leisten sollen.
Ich freue mich sehr, heute am 1. August bei Ihnen zu sein – an diesem Tag, an dem wir die Gründung unserer Eidgenossenschaft feiern. An diesem Tag schauen wir zurück – auf das, was uns zusammengebracht hat – und gleichzeitig nach vorne: Auf das, was uns auch in Zukunft zusammenhalten soll.
Ich weiss: Um das Geheimnis dieses Zusammenhalts zu ergründen, braucht es eigentlich keinen Blick in die Weite, von Widen weg, auch wenn dieser Blick hier vom Mutschellen phänomenal ist. Im Gegenteil: Man kann einfach in Widen bleiben. Sie alle machen es eindrücklich vor! Das gemeinsame Feiern des 1. Augusts heute Freitag mit einem Kinderumzug und einem gemütlichen Beisammensein – all das zeigt eindrücklich, wie lebendig und selbstverständlich Zusammenhalt hier in Widen gelebt wird. Aus Widen will man gar nicht weit („widen“) weg.
Und trotzdem möchte ich Sie heute gedanklich mitnehmen. Und zwar auf einen kurzen Spaziergang – zusammen mit einem Vater, seinem Sohn … und einem Esel.
Die Parabel vom Vater, dem Sohn und dem Esel
Wissen Sie, was ein Polylemma ist? Nein? Dann wissen Sie vielleicht, was ein Dilemma ist: Das ist, wenn man aus zwei Möglichkeiten eine auswählen muss. Und beide sind schlecht. Bei einem Polylemma muss man einfach mehr auswählen. Aber auch hier sind die Möglichkeiten alle schlecht! So erging es den Hauptfiguren in der folgenden Geschichte „Vater, Sohn und Esel“:
„Ein Vater und sein Sohn gehen mit ihrem Esel zum Markt. Vielleicht den schönen Weg von Widen nach Bremgarten zum Wochenmarkt. Es ist ein heisser Tag im August und die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Zuerst reitet der Sohn auf dem Esel, während der Vater läuft. Die Leute tuscheln: „Was ist das für ein schlecht erzogener Bube, lässt den armen alten Mann laufen“. Also tauschen sie – nun reitet der Vater, der Sohn läuft. Da sagen die nächsten: „Was für ein hartherziger Vater, lässt den Jungen laufen und sitzt selbst gemütlich auf dem Esel!“ Also setzen sich beide auf den Esel. Eingangs Bremgarten hören sie die Leute empört rufen: „Tierquälerei! Der arme Esel geht so doch zugrunde!“ Also steigen beide ab und laufen beide neben dem Esel her. Die Antwort der Leute lässt nicht auf sich warten: „Die Hellsten sind die ja nicht, sie haben einen Esel und laufen beide.“
Daraufhin sagt der Vater: „Dann tragen wir den Esel eben. Nimmt mich Wunder, was die Leute dann sagen.“ Sie binden dem Esel die Beine zusammen und tragen ihn auf einer Stange. Nun lachen sie alle erste recht aus und die Leute sagen: „Was sind das für zwei Narren!“
In einer anderen Version der Geschichte übrigens ertränken sie den Esel.
Ob tragen oder zu Grabe tragen: Die Botschaft dieser Geschichte ist klar: Man kann es nicht allen recht machen. Wer sich nach jedem Ruf richtet, trägt am Ende nicht nur die Last – sondern das ganze System ad absurdum.
Wir tragen den Staat und der Staat trägt uns
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Weil dieser Esel auch stellvertretend für unseren Staat und unsere Gesellschaft stehen könnte. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – ich meine damit nicht, dass unser Staat einfältig wäre, wie man es manchmal und völlig zu Unrecht einem Esel nachsagt. Vielmehr denke ich an ein gutmütiges, manchmal eigensinniges, aber sehr zuverlässiges Tier, das uns Tag für Tag trägt: unsere Schulen, unsere Spitäler, unsere Sicherheit, unser soziales Netz. Er trägt unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft – und damit uns alle. Unser Land, unsere Schweiz, hat uns schon durch manch schwierige Zeit getragen. Durch Krisen, Kriege und innere Konflikte. Wir müssen dem aber auch Sorge tragen.
Wir, die Schweizerinnen und Schweizer, sind mal in der Rolle von Vater und Sohn: Manchmal führen wir den Staat – zum Beispiel bei Wahlen und Abstimmungen – wenn wir gemeinsam entscheiden, wie es weitergehen soll. Und manchmal – wenn es nötig ist – hilft uns der Staat, unsere Lasten zu tragen oder wir dürfen ein Stück reiten, wenn wir etwa unser gut ausgebautes Sozialsystem benötigen, wenn wir krank sind, unsere Kinder zur Schule schicken, auf den Strassen fahren, auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind.
Manchmal sind wir aber auch die Dorfbewohner am Wegrand, die der Gruppe nachrufen: „Alles falsch! Ihr macht es verkehrt! Lasst den Esel doch gleich sterben!“ – obwohl wir selbst gar nicht mit anpacken.
Wenn die Lauten die Leisen übertönen
Wie viele von Ihnen, die sich in Vereinen, in der Schule, in der Politik, der Kirche, in der Nachbarschaft oder einfach fürs Dorfleben engagieren, sind wir alle mit unserem politischen Engagement „den Rufen vom Wegesrand“ ausgesetzt. Und glauben Sie mir, die werden nicht leiser: Unsere Gesellschaft gleicht immer mehr einem chaotischen Dorfplatz, auf dem alle wild durcheinanderrufen. Jeder weiss es besser. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Keiner hört dem anderen zu. Und neuerdings muss die Wahrheit auf 280 Zeichen Platz haben, wie auf X (ehemals Twitter). Oder sie wird mit einem provokativen Bild erzählt und auf Instagram gepostet. Oder sie soll in ein unterhaltsames 20-Sekunden-Video verpackt werden können, damit die Leute auf TikTok fleissig klicken. Hauptsache schnell, laut, und möglichst viele Likes. Inhalt egal, ob es stimmt, egal. „Empörung ist die neue Währung“: Klicks hier, Views da, Herzli überall – je dramatischer, desto besser.
Und nein, die Jungen trifft keine Schuld – das ist längst nicht nur ein Jugendphänomen. Das ist der Zeitgeist! Wir leben in einer Empörungs-Demokratie: Schlagzeile statt Substanz. Gehört wird, wer am lautesten ist, nicht wer am meisten nachdenkt. Sobald jemand einen konstruktiven Gedanken wagt, ist er schon fast verdächtig langweilig. Alles wird zugespitzt, überhöht, dramatisiert.
Das Tragische daran ist: Wenn alle nur noch rufen – wer hört dann noch zu? Und wenn niemand mehr zuhört – wie sollen wir dann noch miteinander reden?
Statt Dialog – Konfrontation
Diese Entwicklung macht auch vor der Politik nicht halt. Statt Brücken zu bauen, werden lieber Gräben gegraben. Die Weltlage kann uns Angst machen – hüben wie drüben – es rumpelt und trumpelt.
Statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, werden Gegensätze einzementiert. Wer heute eine andere Meinung hat, gilt nicht mehr als Gegenüber – sondern als Gegner.
Eine Demokratie, in der niemand mehr zuhört, verkommt schnell zum Intrigantenstadl, zur billigen Polit-Soap – und steuert mit Volldampf ins Chaos. Ein Gemeinwesen, in dem nur noch das „Ich“ zählt, verliert bald jedes „Wir“.
Verstehen Sie mich richtig: Kritik in einer Demokratie ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Aber wir dürfen nicht vergessen: Der Staat ist kein anonymer Apparat, kein Ungeheuer, das es zu bekämpfen gilt. Und schon gar kein grosskapitalistischer Konzern, der auf Gewinnmaximierung aus ist.
Der Staat – das sind wir. Er ist unser gemeinsames Werk. Unvollkommen, sicher – aber tragfähig. Darum: Tragen wir ihn nicht zu Grabe, den Staat, nur weil wir ungeduldig sind oder anderer Meinung. Pflegen wir ihn – wie man einen alten, treuen Esel pflegt, der zwar hie und da ein bisschen störrisch ist, aber uns mit etwas Heu, Zuneigung und gutem Zureden noch lange und zuverlässig durchs Leben tragen wird.
Wir tragen den Staat
Der Staat, das sind wir – wir tragen ihn, und er trägt uns. Dieses gegenseitige Verantwortungsgefühl ist das Fundament der Schweiz. Unser Land ist stark, weil wir zusammenarbeiten, mitreden, weil wir vertrauen und zum Schluss gemeinsam Lösungen finden: eben den gutschweizerischen Kompromiss. Der gutschweizerische Kompromiss ist unsere Geheimwaffe gegen alle „Polylemmas“ – oder „Polylemmata“, denen wir auf unserer gemeinsamen Reise begegnen. Polylemma? Das ist nicht einfach das Dilemma für Fortgeschrittene, das ist der ganz normale Schweizer Alltag: Immer dann, wenn drei, vier oder von mir aus auch gleich zwölf Interessen und Meinungen aufeinanderprallen – im Dorf, im Kanton, in der ganzen Schweiz. Und trotzdem finden wir meistens einen Weg. Nicht perfekt, aber für alle tragbar. Und darum doch wieder perfekt. Dafür braucht es Geduld, Zuhören, ein bisschen Dickhäutigkeit. Seit über 700 Jahren zeigt sich: Nur durch Konsens, Solidarität und Vielfalt wachsen bei uns Stabilität, Wohlstand und Erfolg. Gerade in Zeiten wie diesen, die uns schneller graue Haare und tiefere Sorgenfalten bescheren – gerade in diesen unsicheren und konfliktreichen Zeiten – ist das Motto „Zäme stark“ aktueller und wichtiger denn je. Denn unser Staat lebt vom Engagement aller – nicht nur vom Zuschauen, Nörgeln und Reinrufen. Unsere Schweiz ist aber nicht einfach isoliert; unser Staat hat auch Nachbarn – und in global schwierigen Zeiten sind Nachbarn mit gleichen Werten wichtig.
Zum Glück, ja, zum Glück! – gibt es sie noch, die alten Schweizer Tugenden: Respekt, Solidarität, Anstand. Dort, wo Menschen einander zuhören, sich die Hand reichen, anpacken, wo man im Quartier, im Dorf, am Arbeitsplatz oder einfach im Alltag nicht wegschaut, sondern mithilft. Unsere Schweiz lebt nicht trotz ihrer Unterschiede, sondern gerade dank ihnen. Wir sind kein perfektes Land, aber eines, in dem wir gut und gerne leben. Wir haben nicht nur Alpen und Seen, sondern Herz, lebendige Nachbarschaft mit gleichen Werten, Sicherheit, Freiheit und ein Miteinander, wo man anderswo lange suchen muss. Wie hier in Widen!
Es liegt an uns, diese Werte nicht kleinzureden oder kaputtzureden, sondern sie aktiv mitzugestalten – und für diese Werte einzustehen, sie aber auch im grossen Ganzen wirkungsvoll für das Gesamtwohl unserer Schweiz einzubringen.
Darum mein Aufruf zum heutigen 1. August: Lassen wir uns nicht einfach tragen, sondern packen wir selber mit an! – Denn: Wer nicht handelt, der wird behandelt. Lasst uns nicht nur kritisieren, sondern auch beitragen. Reden wir miteinander – statt übereinander herzuziehen. Hören wir einander zu, schauen wir genau hin, bevor wir urteilen. Und vor allem: Gestalten wir unser Land weiterhin gemeinsam. Dann wird unsere Schweiz uns auch in Zukunft tragen und für uns da sein – für uns, unsere Kinder und die Generationen nach ihnen.
Und falls unser Esel mal wieder störrisch ist – schimpfen wir nicht und begraben wir ihn nicht. Tragen wir ihn: Mit etwas Geduld, etwas Heu und mit gutem Zureden.
In diesem Sinne: Hören wir aufeinander, mit Anstand und Respekt, in der Sache aber klar und konsequent! Ich danke Ihnen – und wünsche einen schönen 1. August.